Geschichte & Konzepte

Zur Entwicklung der Jungenarbeit

Dass Jungen und Mädchen die gleichen Schulen besuchen, ist seit den 1960er Jahren selbstverständlich. Die Überzeugung, dass Mädchen in ihrer Entwicklung nicht mehr behindert werden sollten, nur weil sie Mädchen sind, hat sich in den 1970er Jahren durchgesetzt. Daraufhin zeigten sich in den 1980er Jahren mehr und mehr die subtilen Mechanismen der Mädchenbenachteiligung – in unseren Sprachgewohnheiten, in Schulbüchern, in der Arbeitswelt und im gesellschaftlichen Leben insgesamt.

Spezielle Mädchenförderungsprogramme wurden etabliert, während man mit den Jungen – wenn überhaupt – im Rahmen von Antisexismus-Trainings arbeitete, in denen ein Junge in erster Linie als Aggressor gesehen wurde, dem es ein soziales und frauenfreundliches Verhalten zu vermitteln galt.

Seit den 1990er Jahren fiel zunehmend auf, dass Mädchenförderung und Befreiung aus traditionellen Rollenbildern nicht funktionieren, wenn man nicht auch mit den Jungen arbeitet. Es wurde klarer, dass Jungen nicht nur Probleme machen, sondern Probleme haben, und dass sie weder ihre individuellen Entwicklungsstufen noch unser Bildungssystem so glatt und problemlos durchlaufen, wie es bisher dargestellt wurde.

Vor diesem Hintergrund konnte sich zunächst die sogenannte Emanzipatorische Jungenarbeit etablieren, und in der darauf folgenden Zeit entstand eine Vielzahl von unterschiedlichen Ansätzen und Angeboten. Um die Jungenarbeit weiter zu profilieren, wurde in der Erziehungswissenschaft bald über ein „Leitbild Männlichkeit“ debattiert – am Ende konnte man sechs konzeptionelle Hauptrichtungen oder Paradigmen zusammen fassen:

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  • Die Antisexistische Jungenarbeit wurde 1989 an der Heimvolkshochschule „Alte Molkerei Frille“ unter feministischen Gesichtspunkten entwickelt, mit der Absicht, Hierarchien und Sexismen zwischen Männern und Frauen pädagogisch zu thematisieren und aufzulösen. Der Junge müsse lernen, die Freiräume und Grenzen anderer – insbesondere des weiblichen Geschlechts – zu respektieren, anstatt sie als privilegierte Täter einer patriarchalen Gesellschaft in gewohnter Weise zu vereinnahmen. Im Mittelpunkt stehe die Entwicklung eines Selbstbewusstseins, welches nicht mehr auf der Unterdrückung anderer basiert.
  • Die Emanzipatorische Jungenarbeit entstand Anfang der 1990er Jahre in Nürnberg und stützt sich auf ein parteiliches Jungenbild, das den Jungen als „Opfer“ seiner Sozialisation begreift. Unter dem Druck von Institutionen und traditionellen Idealen werde der Junge in eine Rolle gezwungen, die ihn von seinen Gefühlen und weichen Seiten entfremde, wodurch Sexismus und Gewalt überhaupt erst entstünden – die Sensibilisierung für bzw. die Befreiung von diesen Rollenzwängen müsse daher zentraler Inhalt der Jungenarbeit sein.
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  • Die Maskulinistische Jungenarbeit bezieht sich auf die Rückbesinnung eines mythologisch hergeleiteten Männlichkeitsbildes. Ziel sei die Initiation zur „wahren Männlichkeit“, bei der das Verhältnis zwischen Junge und Jungenarbeiter in den Mittelpunkt rückt. Anstatt die Männlichkeit aus soziohistorischen Gründen rein negativ zu bewerten, werde hier bei den Stärken der Jungen angesetzt. Einerseits bietet dieser Ansatz durch sein klares Männlichkeitsbild greifbare Orientierungen für die Jungen; andererseits besteht die Gefahr, dass dadurch alle anderen Bilder und Entwicklungswege als Abweichung erscheinen.
  • Die Androgynistische Jungenarbeit geht von einer dialektischen Polarität männlicher und weiblicher Eigenschaften aus, die in jedem Menschen vorhanden sind. Es sei wichtig, sich aus einseitigen Rollenzuschreibungen zu emanzipieren und sogenannte weibliche Eigenschaften und Verhaltensweisen zu integrieren. Dieses Konzept wurde wegen ihrer Wertfreiheit und Offenheit gelobt, welches dem Jungen auch vermeintlich „weibisches“ Verhalten erlaubt. Zu kritisieren ist eine inhaltliche Verschwommenheit, die den Jungen vor eine diffuse Ansammlung von weiblichen und männlichen Stereotypen stellt und keine klare Orientierung bietet.
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  • Die Konstruktivistische Jungenarbeit begreift die Geschlechter als Produkte soziohistorischer Vorgänge. Ziel sei es, alte (hegemoniale) Männlichkeitsbilder zu hinterfragen und neue Bilder zu erfinden, bei denen Qualitäten wie Empathie und Toleranz von Bedeutung sind. Männliche Identität werde jedoch nicht vorgegeben, sondern müsse individuell entwickelt werden. Die Stärken dieses Ansatzes liegen in der Selbstbestimmung des Jungen und in der Vielfalt der Möglichkeiten. Allerdings kann eine bewusst reduzierte Hilfestellung den Jungen auch überfordern bzw. in eine Beliebigkeit und Unverbindlichkeit münden.
  • Die Realistische Jungenarbeit legt besonderen Wert darauf, die persönlichen männlichen Leitbilder des Jungen zu verstehen und deren individuelle Bedeutung und Funktion für die Alltagsbewältigung nutzbar zu machen. Um eine lebensnahe, lebbare Männlichkeit zu entwickeln, müssten abstrakte Idealbilder durch lebendige männliche Vorbilder ersetzt werden. Positiv zu bewerten ist, dass dieser Ansatz sich auf solidarische Weise an den Lebenswelten der Jungen orientiert; andererseits muss kritisiert werden, dass die Konzentration auf eben diese Lebenswelten möglicherweise zu einer Verstärkung der problematischen Wirklichkeit des Jungen führt.

Für die heutige Jungenarbeit bieten die dargestellten Konzepte ein umfassendes pädagogisches Spektrum, aus dem sich einzelne Projekte und Maßnahmen ableiten und gestalten lassen. Umgekehrt kann es sehr aufschlussreich sein, die eigene Praxis aus der Perspektive jedes einzelnen Ansatzes immer wieder zu prüfen und ggf. zu verbessern.

Als wichtigster und zentralster Aspekt der geschlechtsbewussten Arbeit mit Jungen soll zum Schluss noch einmal auf das persönliche männliche Selbstverständnis, also das eigene Mann-Sein des Jungenarbeiters hingewiesen werden, der für den pädagogischen Umgang mit Jungen von entscheidender Bedeutung ist – egal, um welche Ansätze und Vorgehensweisen es sich dabei handelt.